Es ist Juli, und somit auch Disability Pride Month.
Passend dazu habe ich hier mal wieder einen Blogbeitrag für Euch, der aufzeigt, wie weit wir von tatsächlicher Barrierefreiheit entfernt sind. Vorneweg – ich habe zwar chronische Erkrankungen, aber keine Behinderungen. Ich spreche nicht für behinderte Menschen, nur manchmal mit ihnen. Wenn ihr Euch für die Lebensrealitäten behinderter Menschen interessiert, für ihre Wünsche, ihre Kämpfe, ihre Forderungen, ihre berechtigte Wut und insgesamt das Leben mit Behinderung, dann lege ich Euch sehr ans Herz, ihnen auf social media zu folgen, ihre Blogs und Bücher und wissenschaftlichen Arbeiten zu lesen, ihre Youtube-Kanäle zu abonnieren und nicht nur das zu konsumieren, was Menschen ohne Behinderungen über sie schreiben!
Bildquelle: Wikimedia
Lizenz: CC0 1.0 Universal (CC0 1.0) Public Domain Dedication
Ach Hamburg, manchmal machst Du es einem aber auch nicht ganz so leicht!
Heute schreibe ich ein zweites Mal über ein Thema, das mich sowohl beruflich als auch privat immer wieder beschäftigt. Den ersten Teil habe ich Ende September 2020 geschrieben, nachdem ich eigentlich nur mit einem tollen Mann in Hamburg einen Kaffee trinken und mich unterhalten wollte. Ihr könnt ihn hier finden:
Nun, gestern habe ich ein weiteres Mal erleben können, wie es zum Beispiel Menschen im Rollstuhl so ergehen kann, wenn sie Hamburg besuchen. Dieses Mal ging es nicht nur um einen Kaffee im Lokal, sondern auch um Hotelübernachtungen.
Wie Ihr vermutlich wisst, bin ich als Domina nicht nur im Studio tätig, sondern mache auch Hotelbesuche. Das ist nicht zuletzt deswegen so, weil viele BDSM-Studios, in denen ich mir Räume mieten kann, alles andere als barrierefrei sind. Eine Treppe ins Untergeschoss, etliche Stufen in den ersten Stock, weil der Aufzug selten funktioniert, schmale und verwinkelte Flure, Räume, die so zugestellt sind mit Spielgeräten, dass ein Drehen und Wenden mit einem Rollstuhl nicht komplikationslos möglich ist, Duschwannen, die viel zu hoch sind – die Liste könnte noch um etliche Punkte erweitert werden, da ich mich jetzt bei allen aufgeführten Punkten in erster Linie auf Hürden für Gehbehinderte oder Menschen im Rollstuhl konzentriert habe. Das sind aber natürlich nicht die einzigen Behinderungen, die Menschen vor massive Probleme stellen können, wenn es darum geht, einen Besuch im Studio zu planen. Es gibt natürlich auch andere Behinderungen, die entsprechende Ansprüche und Voraussetzungen bei der Zugänglichkeit eines Studios mitbringen.
Ich mache übrigens noch nicht mal grundsätzlich den Studio-Besitzer*innen einen Vorwurf. Studios können nun mal nicht beliebig irgendwo rein gebaut werden. Sogenannte Prostitutionsstätten, zu denen BDSM-Studios auch gezählt werden, sind bekanntlich nicht so gerne gesehen. Schon gar nicht irgendwo deutlich sichtbar, gut erreichbar im gerade neu errichteten, modernen und vor allem barrierefreien Gebäude, das jetzt auf schicke Wohnungen oder Büros wartet. Wäre die Sexarbeit allgemein anerkannt, nicht so hochstigmatisiert und sollte sie nicht am liebsten unsichtbar in irgendwelchen Hinterhöfen stattfinden, dann hätten wir mit Sicherheit sehr viel mehr BDSM- und Tantrastudios, Bordelle, Clubs und ähnliche Einrichtungen, die barrierefrei sind. Das ist eben auch eine der vielen Auswirkungen von Stigmatisierung! Aber zurück zum eigentlichen Thema:
Vor ein paar Tagen erhielt ich eine Anfrage via E-Mail. Nichts außergewöhnliches, ob zu einem bestimmten Datum, zu einer bestimmten Uhrzeit ein Hoteltermin möglich wäre. Mit der Zusatzinformation, dass der Verfasser der E-Mail auf einen Rollstuhl angewiesen sei. Er sei für ein paar Tage in Hamburg und würde mich gerne in seinem Hotel empfangen. Alles klar, kein Problem! Also, das dachte ich zumindest zu dem Zeitpunkt.
Wir zurren die Verabredung verbindlich fest, ich bekomme von dem zukünftigen Gast, nennen wir ihn Adam, die Adresse des Hotels und sehe mir wie immer an, wo es hingehen soll. Ein Viersternehotel, mit sehr guten Bewertungen. Ach, das ist ja toll. Und auch nicht weit weg, ich muss also nicht quer durch Hamburg gurken. Aha, das Hotel hat gerade mal drei barrierefreie Zimmer, das macht mir sofort Gedanken, aber nachdem Adam ja ein Zimmer fest gebucht hat, wird es da ja wohl keine Probleme geben. Tja, Pustekuchen!
Am Tag des Termins finde ich morgens eine E-Mail im Postfach. Es hätte Probleme bei der Buchung gegeben, ob wir uns auch in einem anderen Hotel treffen könnten? Ja, alles gut, das ist kein Problem. Auch dieses Hotel sehe ich mir an, und schlucke erst einmal, weil es sich um ein Hotel einer Kette handelt, die ich normalerweise für berufliche Termine meide, da sie bessere Schuhkartons als Zimmer bezeichnet. In diesem Fall war es aber nicht die „budget“-Variante, sondern ein Dreisternehotel mit ebenfalls guten Bewertungen und laut Homepage immerhin sieben barrierefreien Zimmern. Na gut. Ich mache mich also an dem Tag fertig, packe meine sieben Sächelchen ein und lasse mich zum Hotel fahren, wo mich Adam in der Hotelbar erwartet. Sehr sympathischer Herr, auf die 70 zugehend, attraktiv und gepflegt, humorvoller und angenehmer Gesprächspartner – die Chemie stimmt auf Anhieb. Und wie immer bestehen meine Termine nicht nur aus tollen und anregenden Dingen, die man so zusammen machen kann, sondern auch aus Gesprächen. Dabei erzählt er mir, wie es dazu kam, dass er nicht in seinem ursprünglichen Hotel abgestiegen ist.
Adam war vor einigen Wochen schon einmal in diesem Hotel, und weil er an sich sehr zufrieden damit war, hat er sich für diesen Aufenthalt noch einmal ein Zimmer gebucht. Gestern kommt er nun, nach acht Stunden Autofahrt, in Hamburg an und möchte im Hotel einchecken. Nach so einer langen Fahrt ist er natürlich etwas müde und will eigentlich nur sein Gepäck abstellen und entspannen. Dumm nur, dass das Personal an der Rezeption ihm sagt „Oha, wir haben ja nur drei barrierefreie Zimmer, und die sind alle belegt!“ Also, ich wäre zu dem Zeitpunkt ja einmal gepflegt ausgerastet! Bei der Erzählung ist mir wirklich etwas die Kinnlade runter gefallen. Als ob es nicht schon genug wäre, dass viele Hotels gar keine und andere nur wenige barrierefreie Zimmer haben, und man deswegen explizit so ein Zimmer buchen muss, ist es dann einfach mal nicht verfügbar? Ein absolutes Unding!
Adam ist allerdings ein sehr entspannter Mensch, lässt sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen und versucht noch bei zwei weiteren Hotels ein barrierefreies Zimmer zu bekommen. Ohne Erfolg – die wenigen Zimmer die geeignet wären, sind alle belegt. Schlussendlich ist er in dem Hotel, in dem wir uns dann doch treffen können erfolgreich. Also, sozusagen.
Direkt vor dem Eingang sind einige wenige Behindertenparkplätze. Zu wenige für meinen Geschmack, mit viel Schubsen können da maximal 3 Autos stehen, aber immerhin. Der Eingang ist barrierefrei, die Lobby aber nicht gerade großzügig. Ein paar Säulen stehen ungünstig im Raum, wie ich finde. Der Bereich mit den Stühlen direkt neben dem Eingang, der noch zur Bar gehört, ist verhältnismäßig eng, aber noch im tragbaren Rahmen. Die Aufzüge sind knapp bemessen. Adam in seinem leichten Rollstuhl und ich mit meinem kleinen Dominaköfferchen passen rein, das war es dann aber auch schon. Die Tasten im Aufzug sind auf der üblichen Höhe, es gibt auch keine Haltemöglichkeit wie zum Beispiel Griffe an denen sich ältere Menschen oder jene mit unsicherem Gang festhalten könnten. Die Flure sind ok, nicht übermäßig großzügig, aber auch nicht super eng. Allerdings wäre es vermutlich schon ein Problem, mit einem Rollstuhl an einem der Putz- oder Wäschewagen bequem vorbeizukommen. Das ginge, aber eben nur gerade so.
Als wir in seinem Zimmer ankommen, trifft mich fast der Schlag! Ja, es ist ein für zwei Personen ausreichend großes Bett vorhanden – das Hotel scheint überhaupt keine Einzelbetten zu haben. Ja, Adam kann sich mit seinem Rollstuhl in dem Raum bewegen, aber der breite Kunstlederhocker, der an der Wand vor dem Fußende des Bettes steht, ist nicht gerade günstig platziert, das ist schon recht eng beim Manövrieren. Da der Raum aber insgesamt relativ klein ist, gäbe es auch schlicht keine andere Möglichkeit, das Ding umzustellen. Das Bad ist allerdings ausreichend groß mit einer leichtgängigen Schiebetür und breitem Türrahmen, einer nicht übermäßig großen, aber ebenfalls ausreichenden Dusche mit klappbarem Wandsitz, die aber so neben der Toilette platziert ist, dass diese bei etwas ausgiebigeren Duschaktionen unweigerlich nass wird, wenn man den Duschvorhang nicht nutzt. Den hat Adam jedoch so gut es ging in die Handtuchhalterung neben dem Waschbecken gestopft, weil er sonst mit dem Rollstuhl darin hängen geblieben wäre. Das ist nicht gut gelöst. Und überhaupt – Duschvorhänge in Hotelzimmern finde ich persönlich hygienisch eher problematisch, aber das ist vielleicht nur mein Tick.
Ich teile nicht ganz Adams Meinung, dass die Hotelzimmer den Charme von besseren Jugendherbergen haben, aber es ist halt ein allgemeines „Das geht gerade so“-Gefühl. Für 116€ die Nacht finde ich das alles andere als angemessen!
Was mich auch sofort sehr beschäftigt hat: Nicht alle Menschen, die einen Rollstuhl nutzen, haben einen leichten, schmalen Rollstuhl. Selbst ich als nicht behinderter Mensch weiß, dass es sehr unterschiedliche Modelle gibt, was die Größe und vor allem Breite angeht. Und es gibt E-Rollis, die einfach mehr Platz brauchen als so ein relativ leichter und einfacher Rollstuhl, wie ihn Adam besitzt. Natürlich bin ich keineswegs Expertin für Rollstühle, aber ich bin ziemlich sicher, dass nicht alle Menschen im E-Rolli gut zwischen Bett und Hocker vorbei kommen würden. Vermutlich gibt es auch da etwas sportlichere, schmale Modelle, und ich kenne auch zugegeben nur zwei Menschen im E-Rolli persönlich, aber deren Rollstühle sind definitiv deutlich breiter als Adams Gefährt. Mal ganz abgesehen davon, dass es einfach auch große und voluminöse Menschen gibt, die dann nicht unbedingt den Smart oder Mini unter den Rollstühlen wählen können oder wollen.
Insgesamt war das alles machbar, es war mit Sicherheit besser als ein nicht explizit als barrierefrei bezeichnetes Zimmer, aber mann ist da noch Luft nach oben! Ich finde es schon ein Armutszeugnis, dass es in einer Großstadt wie Hamburg so schwierig ist, problemlos ein barrierefreies Zimmer zu bekommen. Von den Preisen fange ich gar nicht erst an! Keineswegs alle behinderten Menschen haben ein so gut gepolstertes Portemonnaie wie Adam. Und auch Rollstuhlfahrer*innen möchten mal eine Städtetour oder Urlaub machen, ohne dafür gleich einen Kleinkredit aufnehmen zu müssen! Da muss es doch auch endlich mal vernünftige und erschwingliche Optionen geben! Gerade junge Menschen möchten vielleicht auch einfach mal ein Wochenende mit Freunden zusammen unterwegs sein, feiern, Sightseeing machen usw. Die können sich doch über 100€ die Nacht wirklich nicht einfach aus der Portokasse nehmen! Aber die finanzielle Benachteiligung behinderter Menschen in nahezu allen Lebensbereichen, der Umstand, dass Vermögen zu haben, etwas anzusparen, für viele behinderte Personen gar nicht so einfach möglich ist, das ist ein weiteres Riesenfass, das ich in diesem Blogbeitrag gerade nicht aufmachen möchte.
Neben den Beobachtungen bezüglich der Barrierefreiheit, haben Adam und ich uns auch über andere Dinge unterhalten. Nicht zuletzt über etwas, was mir immer wieder entgegen kommt, wenn ich mich mit behinderten Personen unterhalte. Der Umstand, dass ihnen sexuelle Bedürfnisse abgesprochen werden. Dass zum Beispiel Menschen im Rollstuhl grundsätzlich „Ach, da „geht“ doch bestimmt auch gar nichts mehr!“ entgegen kommt. Adam sitzt im Rollstuhl, weil er sich bei einem Unfall vor 20 Jahren unter anderem den 12. Brustwirbel gebrochen hat. Er kann seine Beine nicht mehr steuern, spürt sie aber sehr wohl, und auch was eine Erektion angeht, gibt es keine Probleme. Ich … äh, habe das getestet. Das ist natürlich nicht bei allen Menschen gleich. Es gibt völlig unterschiedliche Gründe, warum Personen zeitweise oder dauerhaft auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Aber was immer gleich ist – es wird automatisch vorausgesetzt, dass sie keinen Sex haben. Jott bewahre, wenn Behinderte auch sexuelle Bedürfnisse haben! Den Wunsch nach Zärtlichkeit, nach der Befriedigung ihrer Lust, die Freude an zarten oder harten BDSM Praktiken usw. Was man sich nicht vorstellen kann, das darf wohl nicht sein, wenn es nach den Köpfen einiger ignoranter Menschen ginge. Ich finde das sehr frustrierend. Wie bei allen Menschen ist der Weg, der zum gewünschten Ziel führt, sehr unterschiedlich. Wie bei allen Menschen sind die Bedürfnisse ebenfalls sehr unterschiedlich. Sexualität funktioniert nun einmal nicht nach Schema F!
Wenn manche Dinge nicht so funktionieren, wie man es vielleicht bisher gewohnt ist, ja, dann fragt man halt die Person, die ihren Körper am besten kennt, wie etwas toll und angenehm und gut ist. Was funktioniert und was eben nicht funktioniert. Ich glaube nicht eine einzige behinderte Person setzt voraus, dass ihre Sexualpartner*innen auf Anhieb wissen, was ihnen wie am meisten Lust verschafft. Das kriegen wir ohne Kommunikation doch auch bei unseren nicht behinderten Sexualpartner*innen nicht immer sofort hin!
Wenn ihr Euch bisher keine Gedanken darüber gemacht habt, dass behinderte Personen auch Sexualität haben, weil ihr sie sozusagen als „sex- oder geschlechtslos“ wahrgenommen habt – think again! Behinderte Männer, Frauen und nichtbinäre Personen haben genauso schmutzige Phantasien (und den passenden Humor), genauso hohe Ansprüche an Personen mit denen sie intim werden möchten, genauso sexuelle Bedürfnisse wie nichtbehinderte Menschen. Dass ich das hier überhaupt schreiben muss, weil ich immer wieder merke, dass es bei vielen Menschen noch nicht angekommen ist, ist eigentlich ein Trauerspiel!
Mein Fazit von dieser einerseits sehr schönen, andererseits auch durchaus frustrierenden Begegnung:
Hamburg ist, wie so viele Städte in Deutschland, noch immer weit davon entfernt, ein Paradebeispiel für Barrierefreiheit zu sein. Wir haben 2022 for fucks sake! Städte, die sich als modern, innovativ, als lebenswert bezeichnen, sollten so langsam mal in die Puschen kommen, wenn es um die Möglichkeit von Teilhabe und wenn es um Barrierefreiheit geht!